La fessura obliqua – Eine ideale Kletterei?
Über der Grotte wölbt sich ein riesiger dachförmiger Überhang, durch den der Riss auf körperbreite erweitert, weiterzieht. Der kompakte Riss über der Grotte erschien uns schon von der Straße aus als das größte Problem. Ivo übergibt die Führung an mich und in Spannung auf das was mich erwartet, beginne ich zu klettern. Bald nimmt der Riss meinen ganzen Körper auf und ich schiebe mich Stück für Stück an die Dachkante hinaus, mit dem Rücken auf der einen Seite und den Füßen auf der anderen Seite. Einerseits sehr luftig, aber doch auch im dunklen Riss geborgen erreiche ich die Dachkante. Eine große Sanduhr gibt hier eine beruhigende Sicherung. Jetzt wird es quälend eng im Riss und ich frage mich, ob dies noch eine schöne Kletterei ist. Elegant ist es nicht mehr. Die Bewegugsfähigkeit ist stark eingeschränkt und der Einsatz des ganzen Körpers, des Rückens, der Knie, Schultern und Ellbogen, gefordert. Der Riss verschmälert sich weiterhin und zwingt mich nach außen. Ich schlage einen Haken, an dem ich mich nach außen lasse. Jetzt bin ich zwar aus der Enge befreit, aber der Riss ist mit seiner Breite und Glätte so abweisend, dass für mich an ein Freiklettern nicht zu denken ist. Der schräge Verlauf und die überstehende obere Risskante machen ihn noch unangenehmer. Es ist spät und die Dämmerung beginnt schon. Ich kann einen Haken in ein Loch schlagen und lasse mich an ihm zu Ivo und Edy ab. Während ich mich mit dem Riss beschäftigte, haben Edy und Ivo den Weg durch den Feigenbaum freigeschnitten.
Ein paar Tage später steigen wir wieder ein um die Tour zu vollenden. Jetzt kommt Ivos Riesenfriend zum Einsatz. Mit seiner und der Hilfe ein paar zusätzlicher Friends und einer gefädelten Schlinge um einen Klemmblock kann ich den Rest des Risses bezwingen und erreiche einen Standplatz. Ich sichere Ivo und Edy nach und bin erst einmal froh, dass der Riss bezwungen ist. Edy und Ivo sind begeistert von dem Riss. Wie wird es den Wiederholern ergehen? Durch die Haken und Schlingen sind jetzt kaum zusätzliche Sicherungen nötig, aber ist er dadurch zugänglicher geworden?
In der nächste Seillänge fühlt man sich wieder ganz als Kletterer. Der folgende Kamin lässt sich gut spreizen, die anschließende Wand bietet kleingriffige Kletterei, ein kurzer Quergang bringt nach links zu einem Riss, der zum Stand auf einer Kanzel leitet. Über eine kurze Kante, ein Waldband und eine kleine Wand erreichen wir den Ausstieg.
Wie bleibt diese Kletterroute in Erinnerung? Das ist immer so eine Sache mit der Erinnerung. Die gute oder schlechte Erinnerung hängt meistens mehr mit der persönlichen Tagesverfassung zusammen, als mit einer wirklich objetiven Einschätzung. Dieselbe Klettertour kann einmal als schön und ein andermal als schlecht empfunden werden. Es ist die Fessura obliqua sicher keine alltägliche Route. Sie ist alpinistisch und erfordert den Umgang mit mobilen Sicherungsmitteln. Sie wird den Kletterer zufriedenstellen, der das Abenteuer, die besondere Herausforderung sucht. Sie bietet außergewöhnliche Passagen und beeindruckende Felsformationen. Besonders die Seillänge über der Grotte wird in Erinnerung bleiben. Ob gut oder schlecht hängt von der Vorliebe für diese Art von Kletterei und vielleicht auch von der Größe des Kletterers ab. Der Kletterer, der mehr das elegante Höhersteigen bevorzugt, wird sich hier nicht wohlfühlen.
Die via „Fessura obliqua“ ist jetzt so eingerichtet, dass man mit einem normalen Sortiment an Keilen und Friends auskommt. Sehr große Friends sind nicht notwendig.
Die vorletzte Seillänge über eine von Gras und Sträuchern durchsetzte Verschneidung konnten wir relativ einfach verbessern, indem wir diese Seillänge an die Kante weiter rechts verlegten. Große Mühe bereiteten uns zwei Seillängen am Beginn der oberen Hälfte. Bei der Erstbegehung schien uns dies die beste Möglichkeit zu sein. Möglichkeiten einer mehr direkteren Linienführung schlossen wir wegen schlechtem Gelände, bzw. einer uns zu schwierig erscheindenden Wand aus. So versuchten wir zuerst mit viel Mühe und tagelanger Arbeit diese zwei Seillängen in einen empfehlenswerten Zustand zu bringen. Viel Erde und lose Steine waren zu beseitigen. Unser stärkster Feind aber war der Aufwind, der hier an der nach Süden exponierten Wand lebhaft unsere Arbeit immer wieder zunichte machte, der die Erde wieder nach oben beförderte und sie schön gleichmäßig auf die zuvor gereinigten und im Sonnenlichte strahlenden Felsen verteilte. Es war wie ein Fass ohne Boden. Die Erde verteilte sich nicht nur auf die Felsen, sondern auch auf uns und am Abend waren wir einem Kaminkehrer nicht unähnlich. Mit Brillen versuchten wir uns davor zu schützen, dass der Staub in die Augen drang.
Aber trotz aller Mühe gelang es uns nicht, diese beiden Seillängen annehmbar und zur Zufriedenheit zu gestalten. Die Erde war nicht zu bändigen und der brüchige Fels schien unergründlich. Sie entsprachen gar nicht dem Ideal. Besonders Heinz Grill störte die Disharmonie und so suchte er nach einer anderen Möglichkeit. Er schaute sich den Teil, dem wir bei der Erstbegehung ausgewichen waren, doch einmal näher an und fand eine gute Lösung über zwei steile, von einem Band unterbrochenen Wände.
Eine Kletterroute sollte nach unserem Idealbild sauber und möglichst frei von Erde sein. Genauso wenig, wie man sich in einer verstaubten und verschmutzten Wohnung wohlfühlt, so verleidet ein verschmutzter Felsen eine sonst schöne Klettertour. So ist die Sauberkeit für uns nicht der einzige , aber ein wichtiger Teil, der eine erlebnisreiche Kletterroute auszeichnet.
Auf einen sauberen, das Licht hell reflektierenden Fels wird man gerne hinschauen, er ist anziehend, entgegenkommend. Mit einem schmutzigen Fels wird man sich nicht so leicht anfreunden, man fühlt sich eher abgestoßen, findet auch kaum einen guten Kletterrhythmus. Wie fühlen wir uns, wenn wir auf einem mit Erde bedeckten Tritt stehen oder sich Erde zwischen der Verbindung von Fels und Fingern befindet? Die Gefahr des Abrutschens ist groß und wir werden uns sehr unsicher fühlen. Selbst feiner Staub kann eine feste und verlässliche Verbindung zwischen den Gliedern und dem Felsen verhindern und die Sicherheit vermindern. Fühlt man sich unsicher, so kann auch nicht der Rhythmus mit seinen freudigen, leichten und eleganten Bewegungen entstehen.
Dieses tiefere Erleben der Formen und Farben, so wie es Heinz Grill feinfühlig wahrnimmt und für die Kletterer erlebbar machen möchte, lebt oft verborgen hinter unseren Emotionen. Wir sind oft so mit den Anforderungen beschäftigt, die die Kletterroute an uns stellt, dass wir diese feineren Empfindungen nicht bewußt wahrnehmen und es vielleicht deshalb auch nicht für so wichtig erachten, ob der Fels mehr oder weniger sauber ist.
Durch die oben beschriebenen und einige weitere kleine Veränderungen und Verbesserungen der ursprünglichen Linie entstand eine empfehlenswerte Route mit alpinistischem Charakter und einer mehr direkten, aufstrebenden Linie.
Sergio Martini in dem abweisenden Riss der 6. Seillänge